15.03.2010 | Ingo Niebel (Junge Welt vom 15.3.2010)

ETA-Mitglied Jon Anza lag zehn Monate lang unentdeckt im Leichenschauhaus

Für die Familie von Jon Anza hatte das elf Monate lange Bangen um seinen Verbleib am Freitag ein trauriges Ende: Die Polizei bestätigte, daß es sich bei einem unbekannten Toten, der seit Mai 2009 im Leichenschauhaus von Toulouse gelegen hatte, um das verschwundene Mitglied der Untergrundorganisation Euskadi Ta Askatasuna (ETA, Baskenland und Freiheit) gehandelt habe.

Bisher ist nur klar: Anza bestieg am 18. April 2009 in Baiona (Bayonne) den Zug nach Toulouse. Am 29. April fand ihn die Polizei bewußtlos in einem Park der südfranzösischen Stadt und ließ ihn in ein Krankenhaus bringen. Dort verstarb er am 11. Mai, ohne das Bewußtsein wieder erlangt zu haben. Da er angeblich keine Ausweispapiere mit sich getragen hatte, wurde der Tote nicht identifiziert. Mitte Mai 2009 stellte die Familie eine Vermißtenanzeige. Am 19. Mai 2009 erklärte die ETA, daß ihr Mitglied in Toulouse Geld übergeben sollte, aber nicht zu dem Treffen erschienen sei. Nun soll der Zufall zur Aufklärung beigetragen haben. Ein Mitarbeiter des Leichenschauhauses will vor ein paar Tagen einem befreundeten Polizisten von dem unbekannten Toten erzählt haben. Dessen Identifizierung gelang, weil bei den persönlichen Sachen neben 500 Euro auch noch ein Bahnticket für die Hin- und Rückfahrt von Baiona nach Toulouse für den 20. April auftauchte.

Am Freitag versprach Staatsanwältin Anne Kayanakis in Baiona bei einer Pressekonferenz aufzuklären, warum ein gesuchter Terrorverdächtiger zehn Monate lang tot in einem Leichenschauhaus liegen konnte, obwohl es für unbekannte Tote ein genau vorgeschriebenes Verfahren gibt, das in diesem Fall gleich mehrfach nicht griff. Inoffiziell ließ sie durchblicken, daß sie der Madrider Version keinen Glauben schenkt, wonach sich der krebskranke Anza mit 300000 Euro in bar abgesetzt haben soll. Diese Ansicht hatte Spaniens Innenminister Alfredo Pérez Rubalcaba (PSOE) seinerzeit vertreten, heute schweigt er. Die genannte Summe teilten damals »Polizeikreise« der spanischen Presse mit, die jetzt versucht, Rubalcabas Version abzusichern. Deshalb fragt sie im Gegensatz zur französischen Presse nicht, wieso die spanische Polizei eine genaue Summe nennen konnte, wenn sie angeblich Anza niemals in ihrer Gewalt hatte. Das aber hatte die linke baskische Tageszeitung Gara mehrfach geschrieben, ohne daß Madrid sie wegen falscher Verdächtigungen juristisch belangt hat.

Am Samstag rief Anzas Familie die Öffentlichkeit auf, am Montag morgen nach Toulouse zu kommen, da ein Experte ihres Vertrauens nicht an der Autopsie teilnehmen darf. Für sie ist klar, daß es die Polizei war, die Jon Anza »entführte, folterte und ermordete«.

Erstveröffentlichung: Junge Welt vom 15.3.2010


Anmerkung Info Baskenland:

Die nach wie vor mehr als mysteriösen Umstände bestärken die Überzeugung der Familie. Heute morgen setzte die französische Polizei Tränengas gegen etwa 80 Demonstranten ein, die vor dem Leichenschauhaus mit der Familie die Anwesenheit eines Experten ihres Vertrauens bei der Autopsie forderten. Dies hatte die französische Staatsanwaltschaft abgelehnt. Die Familie durfte den Toten noch nicht einmal sehen. Sie fordert inzwischen eine zweite, unabhängige Untersuchung. Am Sonntag hatten mehrere tausend Menschen in Donostia (span. San Sebastian) für Aufklärung des Falles und für die Bestrafung der Schuldigen demonstriert

Siehe hierzu auch: Non dago Jon Anza? Wo ist Jon Anza? (Juli 2009)

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