08.02.2012 | Ana Mezo, Sprecherin der Izquierda Abertzale (Baskische Linke)

Rede auf der Konferenz “Die kapitalistische Moderne herausfordern – alternative Konzepte und der kurdische Aufbruch”, Universität Hamburg, 3.-5. Februar 2012 (Foto: Ana Mezo während ihrer Rede)

1 – Zeiten des Wandels in Euskal Herria

Der Kampf um die Demokratie in Euskal Herria hat sich in den letzten Jahren positiv entwickelt. Die von der baskischen Linken einseitig getroffene Entscheidung, den Kampf ausschließlich politisch zu führen, hat den Weg zu einer Lösung des letzten in Europa existierenden bewaffneten Konflikts eröffnet und bietet die Möglichkeit, eine wirkliche Demokratisierung zu erreichen.

Am vergangenen 17. Oktober 2011 fand in Euskal Herria eine internationale Konferenz statt, auf der anerkannte Persönlichkeiten der internationalen Gemeinschaft, wie Kofi Annan, Gro Harlem Bruntland, Berthie Ahern, Gerry Adams, Pierre Joxe und Jonathan Powell (im Namen Tony Blairs) sprachen. Wenige Tage später reagierte die ETA positiv auf die Empfehlungen des Internationalen Konferenz mit der endgültigen Absage an jegliche bewaffnete Aktion. Aus der großen Bedeutung dieser zwei Vorgänge können wir schließen, dass uns ein neuer politischer Abschnitt bevorsteht.

Leider haben sowohl der spanische als auch der französische Staat auf diese neue Situation negativ reagiert. Beide versuchen sich einer demokratischen Auseinandersetzung um Ideen und Projekte, die völlig gewaltfrei bestimmt sind, zu entziehen.

Der Mangel an Demokratie und die Negierung des Rechtes des baskischen Volkes, frei über seine eigene Zukunft zu bestimmen sind die Wurzeln des Konfliktes. Der spanische und französische Staat haben Angst vor der Wort- und der Entscheidungsgewalt der baskischen Bürger und sie widersetzen sich deshalb einer Beteiligung an einem umfassenden demokratischen Lösungsprozess.

Diese eindeutig obstruktiven Positionen zu einem Zeitpunkt, an dem politische Konflikte gelöst werden können, stellen eine generelle Tendenz dar und es gibt nur wenige Staaten, die offene demokratische Prozesse zulassen, in denen die sich frei äußernden Stimmen der Völker berücksichtigt werden. Der türkische Staat ist ein klares Beispiel antidemokratischen Handelns mit Bezug auf den Konflikt in Kurdistan.

2 – Vorstellungen zur Demokratie

Aber der Mangel an Demokratie der Staaten betrifft nicht nur die territorialen oder nationalen Konflikte, sondern es handelt sich um etwas Strukturelles und Andauerndes. Wir haben es nicht nur mit einem systematischen sondern gar mit einem systemischen Mangel an Demokratie zu tun. Das gegenwärtige kapitalistische System, seine Politiker und viele der Staaten, die es aufrechterhalten, wollen die Völker und Bürger von den politischen, wirtschaftlichen oder institutionellen Strategien fernhalten.

Die Pfeiler der gegenwärtigen Situation basieren auf den Privilegien einiger Weniger und der allgemeinen Unterdrückung der Völker und Arbeiterklassen. Die letzte Weltwirtschaftskrise (oder zumindest der Mehrheit der entwickelten Staaten) hat nur zur Verschärfung von Formen der Politik, die der Meinung und den Bedürfnissen der Bürger den Rücken kehren, geführt. Eine herrschende Klasse, die durch so undurchsichtige Institutionen und Lobbygruppen repräsentiert ist, wie der IWF, die EZB, Goldman&Sachs, Standard&Poors, entscheidet über die Lebensbedingungen von Millionen von Menschen, und in einigen Staaten ohne jegliche demokratische Kontrolle auch darüber, wer denn an der Macht ist.

Dieser Mangel an Demokratie hat zu einem wachsenden Unbehagen gegenüber den herrschenden Klassen und ihren Führern geführt. Im Kontext der EU übersetzt sich dies in einen wachsenden Glaubwürdigkeitsmangel der europäischen Institutionen. Es herrscht ein bemerkenswertes Legitimationsdefizit im Prozess des Aufbaus Europas. Wenn es auch den Anschein hat, dass die Antwort des Volkes auf den Mangel an Demokratie und die antisozialen Maßnahmen zunehmend stärker wird, profitieren auf dem politischen Feld die rechtesten und reaktionärsten Positionen davon.

Das von der baskischen Linken vertretene Demokratiemodell ist die Antithese zu der gegenwärtigen kapitalistischen Praxis und Ideenwelt. So wie es für uns klar ist, dass die Lösung des baskischen Konfliktes aus der Erteilung des Wortes an und die Entscheidung durch das Volk kommen wird, sind die Meinung und insbesondere die Beteiligung der Bevölkerung von essentieller Bedeutung, um einen neuen, wahrhaft demokratischen politischen, institutionellen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rahmen zu schaffen. Wir denken, dass diese einfache und grundlegende Idee in der ganzen Welt zur Anwendung kommen kann und soll.

Wir sind überzeugt davon, dass die politische Beteiligung der Menschen durch den sozialen Dialog, die öffentlichen Debatten, die Volksbefragungen, Referenden und jeglichen weiteren neuen Mechanismus, der die Berücksichtigung des Willens der Menschen sicherstellt, die Grundlage für die Demokratie in Euskal Herria darstellen.

Seit Jahrhunderten hat das baskische Volk Traditionen und Institutionen entwickelt, die perfekt für diese Sichtweise auf die Demokratie geeignet sind. Ein Beispiel dafür ist die Auzolan oder gemeinschaftliche Arbeit. Diese besteht in der gegenseitigen Unterstützung zwischen Menschen aus der Nachbarschaft mit einem konkreten praktischen Ziel (dem Bau eines Gebäudes, der Reinigung von Wäldern, Hilfe bei Naturkatastrophen…) und ist von der Form her vollständig horizontal organisiert. Ein weiteres Beispiel ist die Organisation der Gemeinden: die Nutzung natürlicher Ressourcen wie Wasser oder Wälder erfolgt traditionell auf gemeinschaftlicher Basis, wodurch dem Konzept des Privateigentums eine sekundäre Rolle zugewiesen wird. Wenn auch klar ist, dass diese Praxen und Gebräuche nicht alle in der modernen Gesellschaft auftauchenden Probleme lösen können, können sie doch als Ausgangspunkt dienen, um jene anzugehen.

3 – Erfahrungen und demokratische Alternativen in Euskal Herria

Das baskische Volk und die abertzale Linken, behält eine große Erfahrung in vielen Fragen im Zusammenhang mit der direkten Demokratie, alternative Projekte, zivilen Ungehorsam und sozialen Bewegungen. Ein höchst progressive IG- Genossenschaftsstruktur, ein hoch entwickeltes System der Bildung in und von der baskischen Sprache, umfangreichen Erfahrungen der direkten Demokratie in lokalen Institutionen, eine Jugendbewegung und eine starke feministische Bewegung, eine dauerhafte Anti-Atom-Aktivität, eine innovative Art und Weise Abfälle zu Recycling, ein Ansatz für eine Ernährungssouveränität … …sind Einige der vielen Erfahrungen in den vergangenen Jahrzehnten.

Hauptfigur aller dieser Kämpfe waren die “herri mugimendua” oder Volksbewegungen. Sie sind eine bunte Sammlung von Organisationen, Gruppen oder Netzwerke, die, grundsätzlich auf offene Art und Weise zusammensetzen, in der Struktur eines Plenums. Es gibt viele praktische Erfahrungen in den letzten Jahrzehnten, so wir konzentrieren uns auf einige, die erfolgreich gewesen sind und echte Alternativen zum bestehenden System geschafft haben.

Die Bewegung für die Wiederherstellung der baskischen Sprache hat es das Verschwinden der euskara (Baskisch)gestoppt und die grundlegenden Werkzeuge, die Sprache in der Zukunft überleben zu können, aufgebaut. Die “Ikastolas” oder baskischen Schulen, begannen ihre Arbeit Mitte Francos Zeit und waren illegal. Mit der freiwilligen Arbeit von Hunderten von Eltern und Lehrern sind heutzutage in der Lage, ein Netzwerk von Schulen in ganz Euskal Herria, – trotz der Verhängung von Staaten-, mit einer demokratischen und egalitären Erziehung und mit sehr fortgeschrittenen pädagogischen Inhalten, zu erstellen. Abgesehen von der Universitäten, die Ikastolas bedeuten der Hauptteil der Ausbildungssystem in Euskal Herria. Im gleichen Bereich der Sprache, ist AEK (Koordination der Alphabetisierung von Erwachsenen in Baskisch) tausenden von Menschen baskisch beizubringen gelungen. Seit seiner Gründung in den späteren siebziger Jahren mit der Gau-Eskolak (Abendschule) bis heute, was als eine politische Arbeit anfing, hat sich in ein umfangreiches Netzwerk von baskischen Schulen mit den besten Lehrmethoden entwickelt. Die baskische Sprache bleibt in Gefahr, aber mit diesen pädagogischen Strukturen und der weiteren Mobilisierung der Bevölkerung, bleibt seines Verschwindens ferner.

Im sozioökonomischen Bereich tauchte in den sechziger Jahren die baskische Genossenschaftsbewegung auf und gilt heute noch als ein einmaliges Erlebnis in Europa für den Erfolg in Anzahl und in Größe von kleinen und mittleren Unternehmen und Partnern/ Mitarbeitern. Die MCC (Mondragón Corporación Cooperativa) begann seine Arbeit vor 40 Jahren mit kleinen Industrie-Werkstätten und hat sich zur größten Industrie-Genossenschaft der Welt mit über 80.000 Mitglieder / Mitarbeiter-innen, Hochschule, Sparkasse und mit dem in der Sozialen Arbeit fokussierten Ziel, verwandelt.

Die Genossenschaften überleben in dem globalen kapitalistischen System . Kritische Punkte, Widersprüche und Bereiche für Verbesserungen sind deutlich vorhanden. Doch dieses Model besteht auf eher demokratischen und fortschrittlichen Arbeitsbedingungen, weil alle Partner / Mitarbeiter-innen über Mechanismen zur Überwachung und Kontrolle der Führungsorgane verfügen.

An dem Kampf für den Umweltschutz hat in den letzten Jahren die Sammlung und Behandlung von Abfällen großen Einfluss in der Provinz Gipuzkoa bekommen. Mit Blick auf den politischen Interessen der grenzenlosen Entwicklungs- und Makro-Pläne Verbrennungsanlagen zu bauen, haben die Sozialbewegung und mehrere lokale Institutionen ein System von Müllsammlung “atez-ate” (Tür zu Tür) entwickelt. Dieses System besteht im Mittelpunkt auf maximales Recycling und politische Bildung und erzielte spektakuläre Ergebnisse in den Gemeinden, in denen sie tätig ist, gegenüber einer von den reaktionären Sektoren geführten konstanten Medienkampagne.

So erfolgreich wie das Sammelsystem selbst wurde der Prozess Umfragen und Information zu verarbeiten, indem die beteiligten Kommunen gefolgt ist. Nach Monaten der direkten Information an die Öffentlichkeit über die Nutzung des neuen Systems, wurden mehrere Volksabstimmungen geführt, die massiv das Projekt unterstützt haben.

Es gibt viele weiteren Beispiele für Kämpfe: Feminismus, Hausbesetzungen gegen die Spekulation, eine Arbeit gegen die TAV und für eine soziale Bahn, die Organisation der Jugendbewegung, die Anti-Atomkraft-Bewegung, ein System von alternativen Medien mit breiter Reichweite …. und Hunderte von Kämpfe im Zusammenhang von lokalen Fragen.

In der Tat, ist für die Abertzale Linke institutionelle Arbeit auf kommunaler Ebene der Schlüssel zur Entwicklung des Konzepts der Demokratie, die wir wollen. Da diese Institutionen den Bürgern am nächsten stehen, bieten sie viele Optionen, um die Beteiligung und eine demokratische Entscheidungsfindung sicherzustellen. Durch das Verbot von politischen Parteien und durch jahrelange massive Verletzung der bürgerlichen und politischen Rechte, durfte die Unabhängigkeitsbewegung nicht in den lokalen und provinziellen Institutionen anwesend sein.

Dies hat sich mit der neuen politischen Phase verändert und schließlich im Mai 2011 bildete sich eine Koalition von Linken und pro-Unabhängigkeit (Bildu) . Auf den Kommunal-und Provinzwahlen gewann diese Koalition in mehr als 100 baskischen Gemeinderegierungen, die Provinzregierung von Gipuzkoa und um die 1100 lokale Mandatsträger und -trägerinnen.

Mit diesem neuen Ausblick, die realen Möglichkeiten der “Macht zu den Menschen, power to the people” zu übergeben hat sich vergrößert. Die dauerhafte Arbeit und ideologische Arbeit der Volksbewegung und die wechselnden Machtverhältnisse in den Institutionen haben erhebliche Veränderungen mit sich gebracht, auch wenn noch nur symbolisch sind. Zum Beispiel, die Provinzregierung von Gipuzkoa hat Volksversammlungen organisiert um die provinziellen Budgets im Jahr 2012 mit Hunderten von Vertretern der kulturellen Gruppen und Vereine und Tausende von besorgten Bürgern direkt zu diskutieren. In diesem Sinne,in Donostia hat die Stadtverwaltung die Schaffung von Nachbarschaftsversammlungen gefördert und dadurch die Gelegenheit für den direkten Austausch von Vorschlägen und für die gemeinsame Entscheidungsfindung zwischen Institution und soziale Bewegung ermöglicht. Sie sind die ersten Schritte, die zusammen mit einer progressiven Steuerpolitik , dem sozialen Schutz der am stärksten gefährdeten Sektoren frische Luft auf europäischer institutioneller Ebene bringen.

4 – Herausforderungen für den Bau einer echten Demokratie im Baskenland

Die demokratischen Bestrebungen der baskischen Männer und Frauen auf allen Ebenen stoß mit der bestehenden politisch-rechtlichen Systems zusammen. Die spanische Regierung, zum Beispiel verbietet die Durchführung von verbindlichen Volksabstimmungen, wenn sie nicht direkt von der Madrider Regierung organisiert werden und hat jede Initiative in dieser Hinsicht behindert, kriminalisiert und unterdrückt. Der Französische Staat, scheinbar demokratischer, erkennt immer noch nicht die kollektiven Rechte der Völker unter seiner Verwaltung und versucht jede Initiative, die über das traditionelle Jakobiner Zentralismus geht, zu ersticken.

Über die Grenzen von Französischen und Spanischen Staaten und von der “Diktatur der Märkte” liegen weltweit sehr positive Signale und Prozesse, die uns die Zukunft mit vorsichtigem Optimismus sehen dürfen. Der Bolivarische Prozess mit ihrem verschiedenen Formen der demokratischen Meinungsäußerung in den einzelnen Ländern (Venezuela, Bolivien, Ecuador …), die demokratischen Aufstände in den arabischen Ländern, die Lektion von demokratischer Mut in Island und die neuen globalen Bewegungen gegen den neoliberalen Wahnsinn wie „Ocuppy“ sind Tatsachen, aus denen die abertzalen Linke lernen will und soll.

Ein weiterer Hinweis von großem Interesse und großer Bedeutung auf Grund seiner Nähe und Natur ist der demokratische Prozess für die Unabhängigkeit, der derzeit in Schottland stattfindet: Das Wort und die Entscheidung der Menschen werden zugehört.

Die Suche nach und der Aufbau eines neuen demokratischen Modells im Baskenland wird viele Schwierigkeiten erleben. Er kann sich nicht in einfachen anti-Systems-Parolen bleiben, er muss echte Alternativen schaffen, er soll die sozialen Unterstützung der Mehrheit erreichen und soll auch die Rhythmen und ideologische Perspektiven dieser respektieren.

Das wird natürlich Widersprüche mit sich bringen. Aber der Erfolg wird daran liegen, diese zu identifizieren, um zu wissen, wie man durch einen kontinuierlichen ideologischen Kampf und durch demokratische Debatte die Hindernisse, die vom derzeitigen System in der Verwaltung auferlegt wurden zu überwinden sind.

Joseba Sarrionandia, ein renommierter baskischer Schriftsteller hat vor kurzem uns daran erinnert, dass das altgriechische Wort “Demokratie” nicht ein Substantiv sondern ein Verb ist , das heißt “Demokratie” ist als dauerhafte Form des Handelns zu verstehen, nicht als statischen oder geschlossenen Rahmen. Diese klare Vorstellung könnte sehr gut die Position und Bekenntnis der Abertzale Linken zur Demokratie zusammenfassen.

Die Abertzale Linke hat in ihrer 50-jährigen Geschichte gelernt, dass die Demokratie und die Anerkennung der Grundrechte wenig mit der Definition und Interpretation durch die Mächte zu tun hat. Es ist ein kontinuierlicher Prozess des Kampfes.

Euskal Herria, Januar 2012


Ana Mezo schreibt regelmässig in englischer Sprache auf basquepeaceprocess.info: weiterlesen >>

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