23.04.2013 | Raul Zelik (Le Monde Diplomatique April 2013)

Seit im Mai 2011 in Madrid die Protestbewegung 15M entstand, ist Spanien nicht mehr zur Ruhe gekommen. Zwar ist die 15M weitgehend zerfallen, doch die Sozialproteste halten unvermindert an: Fast wöchentlich kommt es zu Demonstrationen gegen die Kürzungspolitik der Regierung, die Umfragewerte der Volksparteien PP und PSOE befinden sich im freien Fall [1], und überall im Land sind neue Basisinitiativen entstanden – wie etwa die Bewegung gegen Zwangsräumungen „Stop Desahucios“. Die Krise Spaniens hat jedoch nicht nur mit dem Finanz-Crash zu tun. Das gesamte, in der Transición, d.h. der Demokratisierung nach Francos Tod 1975 ausgehandelte politische Modell steht heute zur Disposition. Soziale, republikanische und Demokratisierungsanliegen verbinden sich dabei – zum Teil auf widersprüchliche Weise – mit den Nationalitätenkonflikten im spanischen Staat.

In der Autonomieregion Navarra lässt sich beobachten, wie kompliziert die Gemengelage ist. Obwohl offiziell nicht Teil des Baskenlandes steht die Comunidad Autónoma de Navarra seit Jahren im Mittelpunkt des baskischen Konflikts. Die sprachlichen und politischen Gräben sind in der strukturschwachen Region, in der nur 650.000 Menschen leben, besonders ausgeprägt. Der Süden und das Zentrum sind spanisch geprägt und wählen mehrheitlich rechts – nämlich die Regionalpartei UPN (Unión del Pueblo de Navarra), die sich mit der bayrischen CSU vergleichen lässt. Der Nordwesten hingegen ist baskischsprachig und trotz seines ländlichen Charakters von Basisbewegungen und Gewerkschaften geprägt. Dementsprechend fragmentiert ist das Parteienspektrum: Die UPN kommt auf 35% der Stimmen, die baskischen Unabhängigkeitsbündnisse Nafarroa Bai und Bildu (die sich mittlerweile zusammengeschlossen haben) auf 29%, die spanisch-sozialdemokratische PSN auf 16%, die in Madrid regierenden Konservativen auf 7% und die spanisch-föderalistische Izquierda Unida auf 6%.2

Mit der Wirtschaftskrise haben sich die politischen Widersprüche verschärft. Die Arbeitslosigkeit liegt zwar unter dem spanischen Durchschnitt, aber nur noch knapp unter der 20%-Marke. Zudem wird die Regionalregierung von einem Korruptionsskandal erschüttert. Wie überall auf der iberischen Halbinsel beruhte das Wirtschaftswachstum Navarras in den vergangenen Jahrzehnten auf Bau- und Finanzgeschäften, was die Ausbreitung von Korruption begünstigte. Anfang 2013 legte die Bürgerinitiative KONTUZ Dokumente vor, die die Rolle der UPN-Regierung in diesem Korruptionsgeflecht beleuchten. Es wurde bekannt, dass die navarrische Ministerpräsidentin Yolanda Barcina als Aufsichtsrätin der Sparkasse Caja de Ahorros de Navarra zwischen 1700 und 2680 für einstündige Sitzungen bezog; ihr Vorgänger und Parteikollege Miguel Sanz hatte es gar auf bis zu 8000 Euro gebracht, indem er mehrere Vorstandssitzungen an einem Vormittag zusammenlegte3. Der eigentliche Skandal bestand aber nicht in den Nebenverdiensten, die die Politiker kassierten, während sie der Bevölkerung Sozialkürzungen aufzwangen, sondern in der Tatsache, dass die Regionalregierung die ursprünglich landeseigene Sparkasse offensichtlich systematisch kaputtwirtschaftete, bis diese 2012 von der Bankgruppe Caixabank übernommen werden konnte.

Im Februar 2013 begann die Justiz von Navarra im Fall zu ermitteln. Doch schon bald zeigte sich, wie eng sozialer, politischer und Nationalitätenkonflikt nach wie vor verzahnt sind. Das Verfahren wurde von der Madrider Audiencia Nacional an sich gezogen. Der Sondergerichtshof, der sich v.a. der ETA-Bekämpfung widmet und vor dem sich seit 1977 Tausende Basken, längst nicht alle ETA-Unterstützer, verantworten mussten, repräsentiert für viele Menschen in der Region die Macht der zentralstaatlichen Rechten. Dass ausgerechnet Ermittlungsrichter Eloy Velasco das Verfahren übernahm, hat ihr Misstrauen nicht verringert. Velasco, Mitglied der regierenden PP, sorgte 2010 für einen diplomatischen Eklat mit Venezuela4, als er die Auslieferung eines seit 1989 in Caracas lebenden Basken verlangte, gleichzeitig aber die Auslieferung des venezolanischen Putsch-Generals Nestor González verhinderte.

Die Aussichten, die UPN-Regierung vor Gericht zur Rechenschaft ziehen zu können, sind also eher gering. Und auch politisch ist die Lage blockiert. Zwar hat das navarrische Parlament – gegen die Stimmen von UPN und PP – Ministerpräsidentin Barcina im März zum Rücktritt aufgefordert, doch ein Regierungswechsel scheint unmöglich. Die PSN, regionaler Ableger der PSOE, will die Mehrheit links von den Konservativen nicht nutzen – nicht zuletzt deshalb, weil die Parteizentrale in Madrid ein solches Bündnis untersagt. Die baskischen Parteien Nafarroa Bai und Bildu, die der PSN einen Politikwechsel angeboten haben, stehen sozial- und wirtschaftspolitisch (ja, selbst in Migrationsfragen5) links von der PSOE. Vor allem sind sie den spanischen Sozialdemokraten aber zu ‚baskisch‘. Eine von ihnen gestützte PSN-Regierung würde auf dem Rest der Halbinsel als Verrat an der spanischen Sache wahrgenommen werden.

Was will der baskische Linksnationalismus?

Wenn man verstehen will, warum die Nationalitätenfrage die politischen Debatten in Spanien immer wieder überlagert, muss man weiter ausholen. Aus Madrider Perspektive haben die Minderheitenkonflikte in erster Linie mit dem Fanatismus der Basken und Katalanen zu tun. Tatsächlich jedoch hat der Zentralstaat maßgeblich dazu beigetragen, dass die Regionalbewegungen Anfang des 20. Jahrhunderts überhaupt erstarken konnten. Der Druck gegen die Sprachminderheiten war so massiv, dass die christdemokratische Baskische Nationalistische Partei (PNV6) in den 1930er Jahren schließlich auf Seiten der Linken Position bezog. Dieses Verhältnis verfestigte sich während des Bürgerkriegs weiter, als baskische Christdemokraten gemeinsam mit Sozialisten und Anarcho-Syndikalisten kämpften.

Anders als in Katalonien radikalisierte sich der baskische Nationalismus unter dem Franco-Regime weiter. Da die PNV unfähig war, einen Widerstand gegen die Diktatur zu organisieren, orientierte sich eine von Arbeitskämpfen und Studentenbewegung beeinflusste jüngere Generation in den 1960er Jahren zunehmend an einem linken Befreiungsnationalismus nach lateinamerikanischem und nordafrikanischem Vorbild7. Um sich vom ethnischen Nationenbegriff abzugrenzen, entwickelte die ETA, während der Diktatur das Sammelbecken des antifranquistischen Widerstands, den Begriff des „baskischen Arbeitervolks“. Dazu wurden alle in der Region arbeitenden Menschen unabhängig von ihrer Herkunft gezählt. Sprache und kulturelle Identität wurden zwar weiter betont, jedoch als offene und veränderbare Projekte definiert.

In diesem Sinne vertritt die baskische Linke bis heute die Ansicht, dass sozialistische und Unabhängigkeitsforderungen miteinander verbunden sind. Sie argumentiert, dass ein grundlegender Politikwechsel innerhalb Spaniens aufgrund der franquistischen Kontinuitäten unmöglich sei. Zwar sei es mit der Transición ab 1976 zu wichtigen Veränderungen gekommen: Linksparteien und Gewerkschaften wurden legalisiert, das baskische und katalanische Autonomiestatut durchgesetzt, und mit der europäischen Integration stieg auch das Lebensniveau spürbar. Doch ein wirklicher Bruch mit der Diktatur sei ausgeblieben.8 Die alten Machtstrukturen in Justiz, Finanzsektor und Sicherheitsapparaten blieben bestehen, mit der Einsetzung des Bourbonen-Königs Juan Carlos durch Franco sei die Gründung einer föderalen Republik verhindert, und der Armee als Hüterin von Spaniens „nationaler Integrität“ eine innenpolitische Sonderrolle zugesprochen worden. Außerdem habe Madrid auch bei den Autonomieregelungen Fakten geschaffen: Volksbefragungen zur Unabhängigkeit wurden für illegal erklärt, die Abtrennung Navarras vom Baskenland durch die Schaffung einer eigenständigen Autonomiegemeinschaft festgeschrieben.

Die blutigen und immer abstruser begründeten ETA-Anschläge haben in den vergangenen Jahrzehnten den Blick darauf verstellt, dass diese Kritik von einer Mehrheit im Baskenland durchaus geteilt wird. Spaniens Transición ist bis heute unvollendet und – was noch gravierender ist – eine nachholende Demokratisierung scheint kaum möglich. Unter der PSOE-Regierung von José Rodríguez Zapatero (2004-2011) stand genau dies auf der Tagesordnung. Zapatero verhandelte mit den Regionalparteien über die Anerkennung von Souveränitätsrechten. Doch die Reformen wurden nicht nur durch die ETA – die Zapatero durch einen Bombenanschlag in Madrid im Dezember 2006 unter Druck setzen wollte und den offiziellen Verhandlungen damit ein Ende bereitete –, sondern auch durch die zentralstaatliche Macht blockiert. Die spanische Rechte mobilisierte Hunderttausende gegen die Verhandlungen9, die Madrider Justiz erklärte das neue katalanische Autonomiestatut für illegal, und selbst aus den Reihen der PSOE kam Widerstand. Mit gezielten, über die Tageszeitung El País lancierten Indiskretionen, der Blockade des katalanischen Autonomiestatuts im Madrider Parlament und einer unnachgiebigen Haltung gegenüber den baskischen Gefangenen sorgte die PSOE-Rechte unter dem damaligen Innenminister (und heutigem PSOE-Vorsitzenden) Alfredo Rubalcaba für ein Klima des Misstrauens bei den Verhandlungen.

Seit dem Ende der ETA hat die baskische Linke, die mit Sortu10 heute wieder über eine legale politische Partei verfügt, mit ihren Positionen deutlich an Zuspruch gewonnen. Bei den letzten Regionalwahlen kam das Bündnis EH Bildu auf 25% der Stimmen. Dabei liegen die Einwände gegen die Unabhängigkeit auf der Hand: Auch ein – dann vermutlich von der PNV regiertes – unabhängiges Baskenland würde sich der Troika und den Finanzmärkten unterworfen müssen. Die baskische Linke verweist jedoch darauf, dass dann zumindest die politischen Kräfteverhältnisse andere wären. Tatsächlich sind die Gewerkschaften im Baskenland kämpferischer, und die Gesellschaft politisierter als im Rest Spaniens. Auch die baskische Christdemokratie steht deutlich weniger rechts als Spaniens PP.

Mit ihrem Projekt orientiert sich die baskische Linke wieder einmal an Lateinamerika – heute allerdings nicht mehr an Kuba, sondern an den neuen Linksregierungen des Subkontinents. Sortu, so heißt es in der Gründungserklärung der Partei, will den „Aufbau eines national-popularen Blocks“ vorantreiben und damit eine „demokratische Revolution“ ermöglichen. Genossenschaften sollen gestärkt, Kapital- und Spitzensteuersätze erhöht, Großprojekte gestrichen werden. Dabei bleibt ausgeblendet, dass sich ein unabhängiges Baskenland sofort in der europäischen Standortkonkurrenz befände und dann – wie zuletzt in Katalonien – wohlstandschaunivistische Überlegungen fast automatisch an Einfluss gewönnen. Doch festhalten lässt sich immerhin, dass der baskische Nationalismus – anders als vielfach behauptet – kein rassistisches Projekt verfolgt. Sowohl Sortu / Bildu als auch die PNV verteidigen den mehrsprachigen und multikulturalen Charakter des Baskenlands. Das erklärte Ziel lautet, die Bevölkerung der baskischen und navarrischen Autonomiegemeinschaften in – getrennten – Referenden über den Status ihrer Regionen zu befragen. Dass das nicht möglich ist, verweist darauf, dass Spanien stärker von Francos Erbe geprägt ist, als es die spanische Mehrheitsgesellschaft wahrhaben möchte.


Raul Zelik ist Professor für Politik an der Nationaluniversität Kolumbiens und Schriftsteller. 2007 veröffentlichte er den Baskenland-Roman „Der bewaffnete Freund“ (Blumenbar-Verlag).

[1] Nach einer neueren Umfrage käme die konservative PP bei Parlamentswahlen nur noch auf 30%, die sozialdemokratische PSOE auf 23% der Stimmen. Zudem fiele die Wahlbeteiligung auf 60%.

[2] Zur aktuellen Parlamentszusammensetzung in Navarra: http://es.wikipedia.org/wiki/Elecciones_al_Parlamento_de_Navarra_de_2011.

[3] Vgl. El País 7.3.2013 und Noticias de Gipuzkoa 9.3.2013.

[4] Das ehemalige ETA-Mitglied Arturo Cubillas war – nach dem Scheitern der Verhandlungen zwischen ETA und der spanischen Regierung in Algerien 1989 – auf Geheiß Madrids nach Venezuela deportiert worden. Cubillas arbeitet heute als Funktionär im Ministerium für Landreform. Die Ermittlungen Velascos dienten der spanischen Rechten, die Chávez-Regierung als Unterstützer einer Terrorverbindung zwischen ETA und kolumbianischer FARC-Guerilla zu diskreditieren.

[5] In der baskischen Unabhängigkeitsbewegung gibt es zwar eine starke Betonung kultureller und sprachlicher Identität, aber keine einwanderungsfeindlichen Positionen. Im Wahlprogramm der Koalition EH Bildu etwa werden Einwanderung sowie die vollen politischen und sozialen Rechte der Migranten verteidigt (vgl. http://ehbildu.net/es/lluvia-de-ideas/libertades)

[6] Die führende Partei des baskischen Regionalismus ist die PNV (Partido Nacionalista Vasco). Auch sie ist katholisch geprägt, aber deutlich weniger konservativ als die navarrische UPN. Mit 34% der Stimmen stellt sie im Baskenland die Regierung. Anders als das Linksbündnis EH Bildu spielt die PNV in Navarra kaum eine Rolle.

[7] In den ersten Dokumenten der ETA-Vorläufer wird noch auf die antikolonialen Befreiungskämpfe Tunesiens und Israels Bezug genommen. Ab 1962 dann sind Kuba und Algerien die entscheidenden Referenzen.

[8] Die Transición wird von Historikern meist als alternativlos geschildert, da nur dank ihr ein neuerlicher Ausbruch der politischen Gewalt verhindern werden konnte. Tatsächlich hätte Spanien jedoch einen klareren Schlussstrich unter den Franquismus ziehen können und müssen. Anders als in Südafrika, Guatemala oder Argentinien gab es in Spanien nicht einmal eine gründliche Aufarbeitung der Verbrechen im Rahmen einer Wahrheitskommission.

[9] Im Baskenland wurde parallel in zwei Runden verhandelt. Die Parteien PSOE, PNV und Batasuna sprachen über die Souveränitäts- und Autonomierechte, Madrid und ETA beschränkten sich auf die Fragen Entwaffnung, Opfer und Gefangene. Trotz des ETA-Anschlags Ende 2006 wurden die Gespräche inoffiziell fortgeführt und standen im September 2007 kurz vor einem erfolgreichen Abschluss, der letztlich aber sowohl von der PSOE-Rechten als auch von einem Teil der ETA-Führung verhindert wurde. Imanol Murua hat diese Geheimgespräche in „Triángulo de Loyola“ (2010) minutiös rekonstruiert.

[10] Die ETA-nahe Unabhängigskeitspartei Batasuna (Einheit), die bis zu ihrem Verbot 2003 etwa 15% der Wählerstimmen erhielt, arbeitete in den letzten Jahren in der Illegalität und bewegte die ETA 2010 schließlich zu einem einseitigen Gewaltverzicht. Dennoch wurde die Parteiführung von der spanischen Audiencia Nacional wegen verbotener politischer Aktivitäten zu einer sechsjährigen Haftstrafe verurteilt. Die Nachfolgepartei Sortu ist seit 2011 legal und heute wichtigste Einzelorganisation im Wahlbündnis Bildu.


Siehe auch: Raul Zelik – Texte zum baskischen Konflikt weiterlesen >>

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