Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt Spanien, das nun viele Gefangene der baskischen ETA freilassen muss

Mit ernster Miene traten der spanische Justiz- und Innenminister am Montag vor die Presse in der Hauptstadt Madrid. Justizminister Alberto Ruiz-Gallardón erklärte, es sei “bedauerlich”, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg den Widerspruch abgelehnt habe, was enorme Auswirkungen hat. Auch die Große Kammer des EGMR hält die Praxis Spaniens für illegal, Haftstrafen rückwirkend neu zu berechnen und deutlich zu verlängern. Schon im Juli 2012 wurde das Land auf Antrag der Baskin Inés del Río verurteilt und Spanien einstimmig angewiesen, sie sofort freizulassen.

Das höchste Gremium des EGMR bestätigte am Montag dieses Urteil und stellte einstimmig fest, das ehemalige Mitglied der baskischen Untergrundorganisation ETA sei seit fünf Jahren “irregulär” inhaftiert. Sie hatte 2008 eine 23-jährige Haftstrafe abgesessen. Zwei der 17 Richter sahen allerdings Artikel 17 der Menschenrechtskonvention nicht verletzt. Das Urteil ist endgültig und kann nicht mehr angegriffen werden. Von Spanien wird gefordert, “dringlich die festgestellten Unregelmäßigkeiten zu beenden”, sagte Gerichtspräsident Dean Spielmann. Es müsse die “Freiheit” der Gefangenen “so schnell wie möglich” garantieren. Del Rio erhält eine Entschädigung in Höhe von 31.500 Euro.

Da die Praxis auch auf andere Gefangene ausgeweitet wurde, muss Spanien etwa 100 Gefangene freilassen, sind sich hochrangige Juristen einig. Margerita Robles, die Sprecherin des spanischen Justizkontrollgremiums machte in Radio Euskadi deutlich, dass ein “Präzedenzfall” geschaffen wurde, der in allen Fällen ohne neues Urteil umgesetzt werden müsse. Sie zeigte sich überzeugt, dass sich die Richter daran halten werden.

Die Zahlen, wie viele Gefangene betroffen sein können, gehen auseinander. Einige Quellen geben 61 Gefangene der ETA und noch einmal gut zwei Dutzend weiterer Gefangene an. In der großen spanischen Tageszeitung El País wird sogar von 137 ETA-Gefangenen gesprochen. Das Urteil kam genau zwei Jahre nachdem die ETA verkündet hatte, den bewaffneten Kampf endgültig einzustellen. Das war von ihr kurz zuvor auf einer internationalen Friedenskonferenz im Baskenland gefordert worden, auch von der baskischen Linken.

Die Basken sind davon überzeugt, dass der Friedensprozess nun vorankommt. Regierungssprecher Josu Erkoreka spricht von einer “Chance” für eine “neue Gefängnispolitik” und einer “Friedenspolitik” des Staates. Die Sozialdemokraten (EA) sprechen in einer Presseerklärung von der “Ungerechtigkeit Spaniens”, die bestätigt worden sei. Die Politik Madrids basiere auf “Vergeltung”, um die reaktionäre Rechte zu befriedigen. Die der PP nahestehende Opferorganisation AVT sieht sich dagegen vor den Kopf gestoßen. Ihre Präsidentin Ángeles Pedraza forderte die Regierung auf, das Urteil nicht umzusetzen, weil es sonst in Spanien die “Menschenrechte nicht mehr gelten”, stellte sie sich in einer eigentümlichen Interpretation über den Menschenrechtsgerichtshof. “Schmerz, Leiden, Angst, Verzweiflung, Scham. Es gibt nicht genug Worte, um das auszudrücken, was ich fühle”, sagte sie dazu, dass “Terroristen, Verbrecher und Mörder” freigelassen werden sollen. “Wir haben nie Selbstjustiz geübt, aber unsere Geduld ist begrenzt”, drohte sie.

Die linke Unabhängigkeitsbewegung meint, dass Eis sei nun gebrochen, weil ein “Riss in der Gefängnispolitik” auftauche, sagte Hasier Arraiz. Der Präsident der neuen Partei Sortu (Aufbauen) und andere Führungsmitglieder gehen davon aus, dass die Konservativen den Friedensprozess über Provokationen und Repression scheitern lassen wollen. Die ETA solle zur Rückkehr der Gewalt gebracht oder eine Abspaltung provoziert werden, um keine Schritte in Richtung des Selbstbestimmungsrechts gehen zu müssen. In diesem Rahmen werden die kürzlichen Razzien gegen die Gefangenenhilfsorganisation und die Prozesse gesehen, die vergangene Woche haben. In Madrid wird über 40 Jugendliche zu Gericht gesessen, die angeblich Führungsaufgaben in einer Jugendorganisation übernommen haben sollen, die im Dienst der ETA gestanden haben soll. Nun hat vergangenen Donnerstag vor dem Nationalen Gerichtshof (Audiencia Nacional) auch der Prozess gegen 36 ehemalige Führungsmitglieder der 2003 verbotenen Partei Batasuna (Einheit) begonnen. Auch ihnen wirft das Sondergericht vor, Mitglieder oder Unterstützer der ETA zu sein, wofür Haftstrafen zwischen acht und zwölf Jahren drohen.

Klar ist, dass das Urteil für die spanische Regierung ein Schlag ist, denn sie in dieser Deutlichkeit nicht erwartet hatte. Der Justizminister kündigte an, dass man nun eine “lebenslängliche Haftstrafe” einführen werde. Anders als vom Kontrollrat für Justiz gefordert, will Ruiz-Gallardón “Fall für Fall” prüfen lassen, und nicht alle Betroffenen sofort freigelassen. Der Nationale Gerichtshof kommt schon heute (Di) zu einer außerordentlichen Sitzung zusammen, um die Freilassung Del Ríos zu beschließen. An der Politik werde sich nichts ändern, kündigte auch der Innenminister Jorge Fernández Díaz an. Er hatte kürzlich auch von “Justiztechnik” gesprochen, um Freilassungen zu verhindern. Anklagen “konstruieren” wollte schon der sozialdemokratische Justizminister Juan Fernando López Aguilar in 2006, stattdessen entschied man sich für die Neuberechnung der Strafen, die nun gekippt wurde.

Die PP musste schon bisher harte Schläge akzeptieren: Batasuna konnte sich in der Partei Sortu (Aufbauen) neu organisieren und wurde im Bündnis mit anderen Linksparteien zur zweitstärksten Kraft im Baskenland. Das höchste spanische Gericht, das sogar die Parot-Doktrin (1) noch abgesegnet hatte, hob das Verbot Sortus durch die spanische Regierung auf, weil sich die Partei streng an das Parteiengesetz hält und sich eindeutig und glaubwürdig von Gewalt distanziert. Dazu kommt, dass auch die Verbote von Zeitungen als illegal abgestraft wurde und Spanien vom EGMR wegen Folter an Journalisten verurteilt wurde.

(1) Die Parot-Doktrin ist nach dem ETA-Mitglied Henri Parot benannt. Demnach werden Vergünstigungen bei der Strafverbüßung (durch Studium, Arbeit…) nicht mehr auf die Höchststrafe angewandt, sondern auf die Einzelstrafen, die nicht selten mehrere hundert Jahre betragen. Die Doktrin wurde vom Verfassungsgericht nur in geringen Teilen 2008 abgeschwächt. Allerdings hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg im Juli 2012 die Praxis im Fall des ETA-Mitglieds Inés del Río im ersten Urteil für illegal erklärt, ihre sofortige Freilassung angeordnet und ihr 31500 Euro Entschädigung zugesprochen. “Rechtliche Veränderungen nach der Begehung der Tat können nicht rückwirkend zum Nachteil des Verurteilten angewendet werden”, hieß es im Urteil, das “politische Gründe” für die Vorgehensweise sieht.

© Ralf Streck, 21.10.2013
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